Socke und Sophie – Pferdesprache leicht gemacht by Juli Zeh

Socke und Sophie – Pferdesprache leicht gemacht by Juli Zeh

Autor:Juli Zeh
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv
veröffentlicht: 2020-01-15T00:00:00+00:00


19.

»Was hast du dir nur dabei gedacht ?«, schimpft Frau Vanderbilt. »Es lief doch so gut mit Socke und dir. Warum überfällst du ihn mit dem Sattel, obwohl du weißt, dass er solche Angst davor hat ?«

Ich kann nicht antworten, weil ich Rotz und Wasser heule. Benno sitzt neben mir am Rand des Roundpens und guckt ganz betroffen. Gelegentlich streichelt er meinen Arm. Normalerweise würde ich rot werden vor Verlegenheit, aber momentan habe ich wirklich andere Sorgen.

»Socke ist am Anfang wirklich ganz ruhig geblieben«, sagt Benno, der ein richtig guter Freund sein kann, wenn er will. Er hat Frau Vanderbilt angerufen, und sie ist sofort gekommen. »Es sah gut aus, wie Sophie ihm den Sattel aufgelegt hat.«

»Er ist wahrscheinlich nicht ruhig geblieben, sondern war im FREEZE«, sagt Frau Vanderbilt. »Eingefroren vor Angst. Und als es ihm endgültig zu viel wurde, ist er explodiert.« Sie legt mir eine Hand auf die Schulter und rüttelt mich. »Was sollte das nur, Sophie?«, fragt sie. »Das passt gar nicht zu dir.«

»Mein Papa …«, schluchze ich. »Mein Papa hat gesagt, Socke muss sich jetzt reiten lassen, sonst … sonst …«

»Sonst was?«, fragt Benno.

»Sonst finden wir keinen Käufer, und er wird vielleicht …« Ich kann das Wort nicht aussprechen.

»Geschlachtet«, ergänzt Frau Vanderbilt.

»Alter!«, ruft Benno erschrocken.

Frau Vanderbilt schüttelt den Kopf. »Es ist nicht fair, dich mit einem solchen Horrorszenario zu erpressen«, sagt sie. »Es gibt immer eine andere Lösung, als ein Pferd zu schlachten.«

»Mein Papa hat es nicht böse gemeint«, nehme ich ihn in Schutz.

»Er hat es nicht böse gemeint und du auch nicht«, sagt Frau Vanderbilt. »Es kommt aber meistens nicht darauf an, was wir meinen, sondern was wir tun.«

Da fange ich wieder an zu weinen. Ich weiß genau, was ich getan habe. Ich habe Socke verraten. Der Gedanke schmerzt so sehr, als steckte ein Messer in meiner Brust. Die ganze Zeit habe ich beim Training mit Socke auf Frau Vanderbilts Anweisungen gehört. Ich war stolz auf unsere Fortschritte, ich dachte, ich hätte es irgendwie schon ziemlich gut drauf. Aber kaum treffe ich mal eine eigene Entscheidung, geht alles schief. Wenn ich es nicht allein kann, denke ich, ist meine ganze Arbeit nichts wert. Wahrscheinlich hat Papa recht. Ich bin noch nicht so weit. Ich kann mich noch nicht wirklich um ein anderes Lebewesen kümmern.

Frau Vanderbilt sieht mich von der Seite an. »Arme Sophie«, sagt sie. »Du hast dich unter Druck setzen lassen. Aber Socke ist dein Freund. Du weißt, was gut für ihn ist. Auch wenn andere Menschen etwas anderes wollen – wenn es um Socke geht, musst du auf dein Herz hören. Verstehst du?«

Jedes ihrer Worte tut weh. Trotzdem schaffe ich es zu nicken. »Ich habe alles kaputt gemacht«, sage ich gepresst. »Er wird mir nie wieder vertrauen!«

»Na, na.« Aufmunternd klopft Frau Vanderbilt mir auf den Arm. »Pferde sind nicht nachtragend. Sie geben uns immer eine zweite Chance. Komm, steh auf.«

Ich erhebe mich und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Auch Benno steht auf und bleibt dicht neben mir, als müsste er mich beschützen.



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